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Interview mit Markus Kistler, BW-Bank

Arbeitskräftemangel ist das größte Zukunftsrisiko für Unternehmen

Die Baby-Boomer sind noch längst nicht alle in Rente. Doch bereits heute sieht jedes dritte Unternehmen in Baden-Württemberg im Fachkräftemangel ein akutes Geschäftsrisiko. Bis 2023 wird das Angebot an qualifizierten Arbeitskräften weiter schrumpfen – demografiebedingt um knapp 30 Prozent. Markus Kistler, Leiter Unternehmenskunden Baden-Württemberg Süd-Ost der BW-Bank, erläutert im Interview, was das für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen bedeutet.

Markus Kistler, BW-Bank, Leiter Unternehmenskunden Baden-Württemberg Süd-Ost

Herr Kistler, Sie sind täglich im Gespräch mit der heimischen Wirtschaft. Ist das Thema Arbeitskräftemangel in den Betrieben wirklich so brisant wie es in den Medien dargestellt wird?
Absolut. Aktuell sind in Deutschland 49,5 Millionen Menschen beschäftigt – mehr als je zuvor. Dennoch steht der Arbeitskräftemangel seit geraumer Zeit – noch vor der Energieversorgung – an erster Stelle der Zukunftsrisiken, denen sich mittelständische Unternehmen stellen müssen. Dass es dabei nicht nur, wie noch vor wenigen Jahren, um Fachkräfte geht, sondern allgemein um Arbeitskräfte, verdeutlicht, dass wir in einem sehr angespannten Arbeitsmarkt unterwegs sind. De facto wird auch die erwartete milde Rezession im Jahr 2023 den Personalmangel nicht entspannen. Seit 2020 beobachten wir ein demografische „Defizit“ am Arbeitskräftemarkt: Die Zahl der Menschen, die ihn altersbedingt verlassen, ist deutlich höher als die Zahlen junger Menschen, die neu integriert werden. Dieses Defizit wird von Jahr zu Jahr weiter ansteigen – von 370.000 Arbeitskräften im Jahr 2022 auf über 500.000 Arbeitskräfte ab dem Jahr 2026.

Das bedeutet konkret … 
Der Arbeitskräftemangel ist kein temporäres Phänomen, sondern das „neue Normal“, auf das es sich auch langfristig einzustellen gilt. Dieser Herausforderung zu begegnen, wird also zur Daueraufgabe des Managements und sollte höchste Priorität genießen.

Viele Unternehmen stehen finanziell bereits durch die hohen Energie- und Rohstoffkosten unter Druck. Jetzt fordern die Gewerkschaften teils zweistellige Lohnerhöhungen. Ist das realistisch?
Die fortschreitende Verknappung von Arbeitskräften wird zu weiteren Lohnsteigerungen führen und letztlich auch der Inflation einen strukturellen Auftrieb verleihen. Auch wenn wir mit einer rückläufigen Inflation in 2023 und 2024 rechnen – die Phase der extrem geringen Inflation der letzten Dekade dürfte für lange Zeit erst einmal vorbei sein. Die Unternehmen werden sehr rasch entweder den Preisauftrieb an ihre Kunden weitergeben oder aber Produktivitätssteigerungen durch Automatisierung und Digitalisierung erzielen müssen.

Wie optimistisch sind Sie, dass die Wirtschaft produktiver wird?
Not macht ja bekanntermaßen erfinderisch. Wir rechnen mit einem deutlichen Innovationsschub – die chronische Arbeitskräfteknappheit wird ganz massiv Innovations- und Rationalisierungsanreize schaffen. Die Produktivitätssteigerungen der Beschäftigten wird dadurch wieder stärker steigen. In den letzten Dekaden sind die Produktivitätszuwächse hingegen eher gefallen – aktuell liegen Sie bei unter 1 % pro Jahr. Rationalisierung war lange ein Schreckgespenst der Arbeitnehmervertretungen und mit der Sorge vor Arbeitsplatzabbau verbunden. Vor dem Hintergrund des Personalmangels sichern aber Innovationen und Rationalisierungsmaßnahmen heute mehr denn je attraktive Arbeitsplätze. Politik, Wirtschaft und Arbeitnehmer müssen an einem Strang ziehen, um Prozessoptimierungen und Innovationen zu beschleunigen und unseren Wohlstand zu bewahren. Vor allem über die Digitalisierung und Robotik haben wir hier einen starken Katalysator für einen Produktivitätsschub in den Unternehmen.

Welchen Stellschrauben gibt es noch?
Glücklicherweise noch viele. Eine davon ist das räumlich flexible Arbeiten im Homeoffice. Allein durch den Wegfall von Anfahrtszeiten werden mehr Kapazitäten für die Arbeit frei und Kandidaten aus entfernten Regionen – auch aus dem Ausland – können gezielt angeworben werden. Daneben gilt es auch, ungenutzte Arbeitskraftressourcen zu nutzen. Viele Frauen in Deutschland würden gerne mehr arbeiten: Die Hindernisse sind häufig fehlende oder zu teure Kinder- und Pflegebetreuung. Hier können Unternehmen gezielt durch eigene Angebote, wie beispielsweise eigene oder in Kooperation betriebene Kinderbetreuung oder die Bezahlung von Zuschüssen gegenwirken.

Bremst der Mangel an Fachkräften, z. B. bei IT-Spezialisten, nicht den dringend benötigten Fortschritt bei der Digitalisierung aus?
Eindeutig ja. Trotz Digitalisierung und Automatisierung werden Millionen zusätzlicher Arbeitskräfte benötigt werden. Wichtig erscheint mir ein Abbau von bürokratischen Hürden, um zugewanderte Arbeitskräften leichter zu integrieren – beispielsweise über die Anerkennung von Studienabschüssen und Qualifikationen. Aber auch das Angebot von Wohnraum ist zu nennen. Hier ist ebenfalls die Politik gefordert.

Beim Recruiting sind in Baden-Württemberg ansässige Global Player eine mächtige Konkurrenz. Wie können Mittelständler punkten? 
Recruiting von Arbeitskräften ist in den Unternehmen heute schon eine Schlüsselfunktion und ich bin immer wieder begeistert wie kreativ gerade mittelständische Unternehmen hierbei sind. Unternehmen bewerben sich heute bei den Menschen! Neben der Ansprache junger Menschen gilt es auch Menschen mit Migrationshintergrund, ältere Arbeitskräfte oder auch Geringqualifizierte gezielt anzusprechen. Der Mittelstand braucht sich dabei gegenüber großen Konzernen nicht zu verstecken – mehr Entscheidungsspielräume, flache Hierarchien mit schnellen Entscheidungswegen, Flexibitität in den Arbeitszeitmodellen sowie Weiterbildungsangebote machen auch kleine und mittlere Unternehmen attraktiv.

Haben Sie einen Tipp aus persönlicher Erfahrung?
Das Erfolgsrezept im Recruiting ist es, die eigenen Stärken in den Vordergrund zu stellen und sich auf neue Wege der Kandidatenansprache einzulassen – beispielsweise haben wir in unserem Haus mit Empfehlungsmanagement sehr gute Erfahrungen gemacht. Es gilt dort präsent zu sein, wo man potenzielle Bewerber auch antrifft.